Schon wieder keine Lust …? Fehlende Libido ist mittlerweile die weit verbreitetste Sexualstörung und nimmt weiterhin zu – besonders bei Männern. Insgesamt leiden 35 Prozent aller Erwachsenen zeitweise unter sexuellen Funktionsstörungen – fehlende Libido ist zwar die bekannteste Störung in der Sexualmedizin, aber nicht die einzige …
Sexualmedizin – was ist das?
Seit 2006 ist sexuelle Gesundheit in den WHO Kriterien für Gesundheit verankert und betrifft damit alle medizinischen Disziplinen. Das ist auch gut so, schließlich leiden bis zu 80% aller chronisch-kranken Patienten auch an Sexualfunktionsstörungen.
Die meisten dieser Störungen wurden entweder durch die Krankheit selbst, durch Medikamente oder medizinische Interventionen ausgelöst. Darüberhinaus gibt es aber auch sexuelle Störungen, die ohne ‚Ersterkankung‘ auftreten, bzw. auch solche, die eigentlich erst eine Folge der Reaktion der Umwelt auf individuell ausgelebte Sexualität sind. In jedem Fall ist es höchste Zeit, die Sexualmedizin in den ganz alltäglichen medizinischen Alltag einzubringen.
Typische sexuelle Störungsbilder
Die Sexualmedizin unterscheidet vier Gruppen von sexuellen Funktionsstörungen
- Sexuelle Funktionsstörungen
- Störungen der Geschlechtsidentität
- Störungen der sexuellen Präferenz
- Sexuelle Reifungsstörungen
Sexuelle Funktionsstörungen
Zu den sexuellen Funktionsstörungen zählen bei Männern und Frauen Libido- und Orgasmusstörungen, bei Männern zusätzlich Erektionsstörungen. Bei Frauen zählen auch Schmerzzustände im Genitalbereich und beim Sex, die keine organische Ursache haben, zu diesem sexuellen Störbild.
Störungen der Geschlechtsidentität
Die zweite Gruppe der Sexualsstörungen sind Störungen der Geschlechtsidentität – zahlenmäßig viel kleiner, aber für die Betroffenen sehr leidvoll. Störungen der Geschlechtsidentität, auch bei Menschen mit Intersexualität, werden oft spät erkannt und Betroffene haben meist einen langen Leidensweg bis zu einer ‚richtigen Diagnose‘ vor, bzw. hinter sich.
Störungen der sexuellen Präferenz
Störungen der sexuellen Präferenz, auch Paraphilien – zu deutsch die „danebenliegende Liebe“ – genannt, sind ein vorwiegend männliches Thema.
Paraphilien können sich richten
- auf nichtmenschliche Objekte und Körperteile (Fetischismus, Sodomie)
- auf Leiden oder Demütigung, Schmerz oder Erniedrigung seines Partners oder seiner selbst (Masochismus, Sadismus)
- auf Kinder (Pädophilie) oder nicht einwilligende oder nicht einwilligungsfähige Personen
Paraphilien sind in unserer Gesellschaft nicht mehrheitsfähig und stoßen auf Ablehnung. Erst in Folge dieser – zum Teil nachvollziehbaren – Ablehnung heraus ensteht eine Traumatisierung (eben das Erlebnis der Ablehnung) und daraus wiederum entsteht die sexuelle Störung.
Paraphilie sucht sich niemand aus, aber eines muss trotzdem gesagt werden: Menschen mit Paraphilie haben eine höheres Risiko, Sexualstraftaten zu begehen. Auch wenn man niemanden zur Therapie zwingen kann: angeraten sei sie bei Paraphilie auf jeden Fall!
Sexuelle Reifungsstörungen
Als sexuelle Reifungstörungen oder ichdystone Sexualorientierung wird der Wunsch bezeichnet, eine andere als die vorhandene eindeutige sexuelle Ausrichtung haben zu wollen. Dabei wird nicht die sexuelle Orientierung (beispielsweise Homo- oder Heterosexualität) selbst als Störung gesehen, sondern das Bedürfnis, die jeweilige Orientierung ändern zu wollen.
Lebensumstände als Ursache?
Durch Reizüberflutung, die immer größer werdenden Anforderungen in der Arbeits- und Freizeitwelt, und dadurch viel zu hoch gesetzte Erwartungen an sich selbst, kann Lustverlust entstehen. Die anderen sexuellen Funktionsstörungen dürften hingegen weniger durch Umwelteinflüsse beeinflusst sein. Sexuelle Störungen insgesamt sind jedenfalls im Zunehmen.
Etwa 35 Prozent aller Erwachsenen eines modernen Industrielandes leiden im Laufe ihres Lebens mindestens sechs Monate lang unter einer oder mehreren sexuellen Störungen. Dazu kommen weitere Störungen, unter denen die Betroffenen eventuell zwar nicht direkt ‚leiden‘, weil andere Beschwerden im Vordergrund stehen, die aber dennoch vorhanden sind. Die genannten 35 Prozent sind also alleine jene, die einen Leidensdruck verspüren; betroffen sind sicher aber noch viel mehr Menschen.
Psychotherapeut oder Sexualmediziner?
Es gibt keine Trennung zwischen Körper und Seele; vielmehr ist eine ganzheitliche Herangehensweise nötig. Eine Kombination aus körpermedizinischen Methoden und Methoden der Psychotherapie bietet sicher die besten Erfolgschancen. Da Sexualität das Grundbedürfniss nach Annahme, Geborgenheit und Nähe befriedigt, ist es wichtig, an allen nur möglichen Punkten – also an der Seele genauso wie am Körper – anzusetzen, um eine Beeinträchtigung der Sexualität zu minimieren und die Lebensqualität zu steigern.
Sexuelle Störungen – noch immer ein Tabuthema
Leider haben nach wie vor viele Menschen Scheu, sexuelle Störungen anzusprechen – das gilt für Patienten genauso wie für Ärzte.
Die Ängste der Ärzte
Ärzte sagen oft, sie fühlten sich für Gespräche über sexuelle Störungen nicht hinreichend ausgebildet und wüssten nicht, wie sie das Thema ansprechen sollten. Sie hätten Angst, Patienten zu nahe zu treten oder ‚in ein Wespennest zu stechen‘.
So können sexuelle Funktionsstörungen bei Frauen z.B. eine Folge sexueller Übergriffe im Kindesalter sein; ein Mensch, der durch Missbrauch traumatisiert wurde, hat später Schwierigkeiten, seine Sexualität zu entwickeln. Wenn nun der Arzt dieses Thema anspricht, kann es sein, dass er ‚Schleusen öffnet‘, dass eine Frau erst im Anamnesegespräch realisiert, was der Grund für eine sexuelle Störung sein könnte.
Und für ein solches Gespräch fehlt Ärzten in der täglichen Praxis tatsächlich oft die Zeit – und in vielen Fällen auch die Kompetenz.
Die Ängste der Patientinnen und Patienten
Individuelle Sexualität, bzw. sexuelle Störungen sind auch in unserer ‚oversexten‘ Welt noch immer ein Tabu. Das Verhältnis zum Arzt, das Vertrauensverhältnis spielt eine entscheidende Rolle, ob ein Patient sich seinem Arzt gegenüber öffnet, wenn er entsprechende Probleme hat.
Wenn bei der Anamnese nicht nur Essverhalten, Schlafverhalten und Ausscheidungsfunktionen abgefragt würden, sondern auch die Frage nach möglichen Problemen in der Sexualität selbstverständlich gestellt wird, tun sich Patienten sicher leichter, sich ihrem Arzt gegenüber anzuvertrauen.
Kein Geschlechtsverkehr mehr möglich – was tun?
Doch was kann die Sexualmedizin anbieten, wenn ein ’normaler‘ Geschlechtsverkehr, eine Penetration, nicht mögich ist, etwa weil z.B. der Mann nicht mehr erektionsfähig ist?
Zunächst geht es um eine interdisziplinäre Prüfung, welche Möglichkeiten noch genutzt werden könnten, um dem Patienten oder der Patientin eventuell mit Hilfsmitteln doch noch eine Penetration zu ermöglichen.
Doch körperliche Beeinträchtigungen können auch Grenzen setzen. Dann ist es explizite Aufgabe der Sexualmedizin, dem betreffenden Paar zu zeigen, wie Sexualität trotz dieser Grenzen gelebt werden kann. Da geht es z.B. um Tipps, wie beide Partner auch ohne Penetration erfüllte Sexualität erleben können und welche Methoden es gibt, das sexuelle Erleben zu optimieren.
Fazit
Ängste, Unsicherheiten, Schamgefühle, Erektionsprobleme, vorzeitiger Samenerguss, Scheidenkrämpfe, vorzeitiger oder ausbleibenden Orgasmus, Ekelgefühle bei körperlicher Nähe, Berührungsängste, Minderwertigkeitsgefühle, aber auch Fetische, oder die unerfüllte Suche nach der eigenen sexuellen Identität sind Beispiele für Störungsfelder im sexuellen Bereich, die Unterstützung brauchen.
Auch gibt es bei Sexualität keine standardisierte ‚Normalität‘, wodurch es rund um die ’schönste Nebensache der Welt‘ schon mal zu konfliktreichen Auffassungsunterschieden kommen kann. Eine Kombination aus Sexualmedizin und Paartherapie kann in solchen Fällen hilfreich sein, auch eine Psychotherapie kann Sinn machen.
Je nach Art der sexuellen Dysfunktion gibt es verschiedene Therapie- und Behandlungskonzepte. Eine medizinische Abklärung vorab ist jedenfalls sinnvoll. In den meisten Fällen ist der Hausarzt erste Ansprechstelle; desweiteren sind Frauen beim Gynäkologen und Männer beim Urologen gut aufgehoben. Mit diesen medizinischen Experten sollten dann weitere Schritte besprochen und gemeinsam überlegt werden, welche weitere Unterstützung hilfreich wäre.
Exkurs: Sexualwissenschaftliches Symposium im November 2015 in Wien
Heuer im November findet das zweite wissenschaftliche Symposium der österreichischen Gesellschaft zur Förderung der Sexualmedizin und der sexuellen Gesundheit statt. Am 20. – 21. November 2015, im AKH, MedUniWien. Ziel der Konferenz ist es, die einzelnen Fachgruppen einander näher zu bringen und damit die „scheinbare“ Komplexität der Sexualität aufzulösen und praxisbezogene Tipps zu vermitteln.
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